(1) Ich weiß, dass dir dies klar ist Lucilius, dass niemand glücklich leben kann, nicht einmal erträglich, ohne Bemühung um die Weisheit und, dass das glückliche Leben durch die vollkommene Weisheit bewirkt wird, aber ein erträgliches auch durch die begonnen (Weisheit). Aber das, was klar ist, muss gefestigt und durch tägliches Nachdenlcen tiefer verankert werden: es liegt mehr Mühe darin, dass du deine Vorhaben bewahrst, als dass du dir ehrenvolle Dinge in Aussicht stellst. Man muss darauf beharren und durch eifriges Bemühen die Kraft hinzufügen, solange dass eine gute Gesinnung ist, was guter Wille ist.
(2) Deshalb brauchst du bei mir nicht mehr Worte oder eine so lange Beteuerung: Ich sehe ein, dass du viele Fortschritte gemacht hast. Ich weiß, woher das kommt, was du schreibst: es ist weder erfünden noch beschönigt. Ich will dennoch sagen, was ich meine: Schon jetzt habe ich was dich betrifft Hoffhung, aber noch keine Zuversicht. Ich will, dass auch du dasselbe tust: Es besteht kein Grund, dass du dir schnell und leicht vertraust. Untersuche dich, erforsche dich auf verschiedene Art und Weise und beobachte dich: Sieh jenes vor allen Dingen, ob du in der Philosophie oder im Leben an sich Fortschritte gemacht hast.
(3) Die Philosophie ist kein Handwerk fttr die Masse und ist auch nicht zur Schaustellung geeignet. Sie besteht nicht aus Worten, sondern beruht auf Taten. Sie wird nicht darin angewendet, dass mit irgendeinem Vergnügen der Tag verbracht wird und, dass der Freizeit die Langeweile genommen wird. Sie bildet und gestaltet den Geist, sie ordnet das Leben, sie regelt die Taten, sie zeigt, was zu tun und was zu lassen ist, sie sitzt am Steuer und lenlct den Kurs durch die gefährlichen Wogen. Niemand kann ohne diese furchtlos leben, niemand sicher: es ereignen sich in den einzelnen Stunden unzählbare Dinge, die einen Rat einfordern, der von dieser erbeten werden muss.
(4) Irgendeiner wird sagen: „Was nutzt mir die Philosophie, wenn es das Schicksal gibt? Was nutzt sie, wenn Gott der Lenker ist? Was nutzt sie, wenn der Zufall herrscht?“ Denn bestimmte Dinge können nicht geändert werden und auch nichts kann gegenüber unsicheren Dingen vorbereitet werden, sondern entweder Gott kommt meinem Plan zuvor und bestimmt, was ich tun soll, oder das Schicksal überlässt meinem Plan nichts.
(5) Was auch immer von diesen Dingen zutrifft, Lucilius, oder ob all dies zutrifft, man muss philosophieren: sei es, dass das Schicksal uns durch ein unerbittliches Gesetz einschränkt oder sei es, dass Gott der Herrscher das ganze Universum geordnet hat, sei es, dass der Zufall menschliche Angelegenheiten ohne Ordnung hin — und her wirft, die Philosophie muss uns schützen. Die wird uns ermahnen, dass wir gern Gott gehorchen, dem Glück jedoch trotzig sind: diese wird lehren, Gott zu folgen und widerwillig den Zufall zu ertragen.
(6) Aber man darf jetzt nicht in diese Diskussion übergehen, was noch in unserer Macht steht, wenn die Vorhersehung an der Macht ist entweder wenn eine Kette von Schicksalssprüchen uns festgebunden zieht oder wenn unerwartete und plötzliche Dinge herrschen: ich kehre nun dorthin zurück, dass ich dich eindringlich auffordere, nicht zu dulden, dass der Antrieb deines Geistes erlahmt und wieder erkaltet. Halte ihn fest und gib ihm Bestand, damit das zu der Haltung der Seele werde, was noch Begeisterung ist.
(7) Schon am Anfang, wenn ich dich gut kenne, wirst du dich umschauen, was dieser Brief als kleines Geschenk gebracht hat. Untersuche jenen und du wirst finden. Es gibt keinen Grund dafür, dass du meine Gesinnung bewunderst. Bis jetzt bin ich frei von Fremden. Warum aber habe ich fremd gesagt? Was auch immer von irgendeinem gesagt worden, habe ich gesagt. Dazu ist auch von Epikur gesagt worden: „Falls du gemäß der Natur leben willst, wirst du niemals arm sein. Wenn du gemäß einer falschen Meinung lebst, wirst du niemals reich sein!“.
(8) Die Natur sehnt das Kleine herbei, die falsche Meinung das Unermessliche. Es soll in dir angehäuft werden, was auch immer viele Reiche besessen hatten. Über das gewöhnliche Privateigentum hinaus soll dich das Glück fortführen, es soll dich mit Gold bedecken, es soll dich mit dem Purpurldeid Meiden und noch dazu zu Genüssen und Reichtümern hinfllhren, damit du die Erde mit Marmor bedeckst, und es soll dir nicht nur dies erlaubt sein, sondern es ist dir auch erlaubylen Reichtum mit Füßen zu treten, es sollen Statuen hinzukommen und was auch immer irgendeine Kunst dem Luxus geschafft hat: du wirst lernen größere Dinge von diesen zu begehren.
(9) Die natürlichen Sehnsüchte sind begrenzt. Die aus der falschen Meinung entstehenden Sehnsüchte haben kein Ende. Es gibt nämlich keine Grenze für das Falsche: der Weg hat für den, der geht irgendein Ende: der Irrtum ist unendlich. Halte dich also vor Nichtigkeiten zurück und wenn du wissen willst, was du erstreben wirst, ob es die natürliche od die blinde Begierde hat, dann bedenke, ob egirgendwo anders bestehen kann. Wenn für den, der weit auf seinem Weg fortgeschritten ist, immer noch etwas in weiter Ferne übrig bleibt, sollst du wissen, dass dies nicht natürlich ist.